Universität und Pandemie - hat die digitale Lehre gelernt?

Wie hat sich die digitale universitäre Lehre durch die Corona-Pandemie verändert und wie kamen und kommen Lehrende und Studierende mit diesen Veränderungen zurecht? Fragen, auf die Susanne Hafner, Fachärztin für Klinische Pharmakologie am Institut für Experimentelle und Klinische Pharmakologie, Toxikologie und Naturheilkunde des Universitätsklinikums Ulm, erste Antworten geben kann und wichtige Schlüsse für die Zukunft der digitalen Lehre zieht.

Im Digitalisierungsprogramm der deutschen Hochschulen lagen vor der Pandemie die Schwerpunkte darauf, mediengestützte Lernarrangements in den Studienalltag zu integrieren, um z. B. die Selbststeuerung beim Lernen zu erhöhen, Lernangebote flexibler zu gestalten oder didaktische Methoden zu stärken. Diese Prozesse waren eher schleichende. Die Corona-Pandemie wirkte als Katalysator für diese Prozesse und digitale Lehre musste in allen Universitätsbereichen augenblicklich gelebt werden.

Von einem Tag auf den anderen waren die bereits vorhandenen digitalen Lernangebote das einzige Lehrmittel, auf das Lehrende und Studierende zurückgreifen konnten. Digitale Konzepte mussten in Rekordgeschwindigkeit überarbeitet und erweitert werden. Aber welche Verhaltensänderungen im Umgang mit digitalen Lernangeboten ergaben sich daraus im universitären Leben und wie veränderten sich Einstellungen und Bedürfnisse gegenüber der digitalen Lehre bei Studierenden und Lehrenden im Vergleich zur Situation vor der Pandemie? Ein wichtiger Zeitenvergleich, aus dem wir viel für den zukünftigen Umgang mit digitaler Lehre unter nicht-Pandemie-Bedingungen ablesen können. Möglich wird Susanne Hafner dieser Vergleich durch die Tatsache, dass ihre Studie bereits im Jahr 2019 initiiert wurde, einer Zeit, in der die Pandemie noch nicht absehbar war.

Um Verhaltensänderungen, Einstellungen und Bedürfnisse in Bezug zum digitalen und analogen Lehrangebot bei Studierenden und Lehrenden der Klinischen Pharmakologie zu identifizieren, wurden von Susanne Hafner regelmäßige Umfragen unter Studierenden der Humanmedizin an der Universität Ulm durchgeführt und evaluiert. Insgesamt nahmen fast 900 Studierende an der Umfrage teil, wobei die hohe Rücklaufquote von 80-95 % bei den Studierenden unterstreicht, welch hohen Stellenwert dieses Thema bei ihnen hat.

Traditionell war das Studium an einer Universität mit dem Besuch von Vorlesungen und deren Mitschriften, langen Lesestunden in Universitätsbibliotheken und dem Erarbeiten des Wissens anhand von ausgedruckten oder digitalen Skripten verbunden. Dieses Lernverhalten bildet sich auch durch die Befragung von Susanne Hafner im vorpandemischen Wintersemester und auch im ersten Semester während der Pandemie ab. Zwar konnte durch geschlossene Bibliotheken das Lesen und Lernen nicht mehr dort stattfinden, jedoch nutzten die meisten befragten Studierenden papierbasierte und digitale Lernskripte zur Vorbereitung auf Prüfungen. Dies änderte sich in den folgenden Pandemiesemestern deutlich und so wurde im Jahr 2021 die Zuhilfenahme von Lernmaterialien in gedruckter Form und weiterführender Literatur (Lehrbücher, Leitfäden) für die Studierenden immer unwichtiger und ihre Nutzung nahm fast um die Hälfte im Vergleich zu vor der Pandemie ab.

Gründe hierfür sieht die Wissenschaftlerin im Erstarken des digitalen Lehrangebots von Seiten der Universität. So wurden digitale Materialien, die über ein Lernmanagementsystem durch die Lehrenden zur Verfügung gestellt wurden, stetig mehr genutzt und sowohl von Studierenden als auch Lehrenden als nützliche Lernhilfe bewertet. Fast 90 % der Studierenden erarbeiteten sich im Sommersemester 2021 ihre Lerninhalte durch die vom Institut bereitgestellten E-Learning-Tools, bestehend aus Medikationsaufgaben und Verständnisfragen. Obwohl sich die Studierenden fast vollständig auf die Nutzung der E-Learning-Tools verließen, schmälerte dies nicht die Nutzenbewertung traditioneller Lernskripte, die auch von den Studierenden während der Pandemiezeit als hoch bewertet wurde. Um Determinanten des Lernerfolgs zu identifizieren, wurden die Befragungsdaten mit den Noten der Studierenden in den Klausuren der Klinischen Pharmakologie korreliert. Im ersten Online-Semester (Sommersemester 2020) war die Verwendung von papierbasierten Lernskripten noch mit besseren Prüfungsnoten verbunden. Für alle anderen Lernmaterialien wurde kein Zusammenhang mit der Note gefunden.

Die Etablierung des digitalen Lernmanagementsystems als hauptsächliches Lehr- und Bildungstool für Studierende bewertet die Wissenschaftlerin für den Studiengang der klinischen Pharmakologie allerdings durchaus kritisch, denn die Vielfalt des Lernverhaltens und ging während der Pandemie verloren. Vor der Pandemie fand der Unterricht überwiegend in Präsenz im direkten Austausch mit den Dozenten statt. Dabei wurden die (prüfungs-) relevanten Fragen geklärt und weiterführende Informationen bereitgestellt. Es war gängige Praxis, dass Lehrende bestimmte Lehrbücher und zusätzliche Informationsquellen empfahlen. Während der Pandemie hinterlegten Dozenten alle Lehr- und Lernmaterialien sowie weiterführende Informationen auf der digitalen Lehrplattform und Fragen wurden über integrierte Foren beantwortet, wodurch die selbständige Informationsbeschaffung durch die Studierenden selbst sowie der individuelle, persönliche Austausch verloren gingen.

Dass sich ein Großteil der Studierenden dann ausschließlich auf diese Materialien zur Prüfungsvorbereitung verließ, stellt möglicherweise die effizienteste Art dar, sich auf die entsprechenden Prüfungen vorzubereiten, so folgert Susanne Hafner. Im Hinblick auf eine umfassende medizinische Ausbildung geht jedoch Wichtiges verloren. So ist für ein erfolgreiches Berufsleben gerade das Wissen und Erlernen der Recherche nach zuverlässigen Informationen, z. B. in Form von Behandlungsleitlinien oder aktuellen therapeutischen Standards und deren Veränderungen, von entscheidender Bedeutung für die Behandlungsqualität.

Einen großen Unterschied bei der Befragung gab es zwischen Studierenden und Lehrenden in der Bewertung von Video-Vorlesungen. Video-Vorlesungen, bei denen der Lehrende seine Vorlesung, bestehend aus Folien und vorgetragenen Erläuterungen, aufnimmt, bieten für eine individuelle Zeitgestaltung große Chancen. So kann das Video dann von den Studierenden angeschaut werden, wenn es für sie zeitlich am besten ist und die Sorge, eine Vorlesung, zu verpassen, entfällt. Weiterhin eröffnet eine Video-Vorlesung Studierenden die Möglichkeit, zentrale Passagen mehrfach anzuschauen und sich das Videomaterial auch bei der Vorbereitung auf Prüfungen zu Hilfe zu nehmen. Video-Vorlesungen bieten Studierenden also viele Vorteile. Dies spiegelt sich auch in der Befragung durch Susanne Hafner wider, wo sich fast ¾ der Studierenden für Video-Vorlesungen gegenüber terminierten Präsenzvorlesungen aussprachen. Anders sehen das Lehrende, bei denen vier von fünf den Präsenzunterricht als Lehrformat der Wahl für die Zukunft ansahen. Dabei ist aber zu beachten, dass die neu eingeführten oder zu entwickelnden Methoden während der Pandemie für die meisten Lehrenden mit zusätzlichem Aufwand und Arbeitsbelastung verbunden waren und die notwendigen Ressourcen dafür häufig nicht gegeben waren. Demgemäß sprachen sich nur zwei von fünf Lehrenden für eine Mischung aus Präsenz- und Online-Formaten für die Lehre in der Zukunft aus und drei von fünf Lehrenden standen E-Learning grundsätzlich skeptisch gegenüber. Dies ist ein klarer Gegensatz zur Haltung der Studierenden, die zwar ebenfalls angaben, dass die pandemiebedingten Veränderungen in der Lehre mit höherem Zeitaufwand, mehr Arbeitsbelastung und längerer Bildschirmzeit bzw. mehr E-Learning-Aktivitäten einhergingen. Diese Mehrbelastung tat aber der positiven Bewertung dieser Veränderungen und der Aufgeschlossenheit gegenüber E-Learning keinen Abbruch und mehr als zwei Drittel der befragten Studierenden favorisierte auch für die Zukunft nach der Pandemie eine Mischung aus Präsenz- und Online-Elementen in der Lehre.

Ein weiterer Aspekt, der zur kritischen Haltung der Lehrenden gegenüber der Umstellung auf digitale Formate eine Rolle spielen könnte, ist die Tatsache, dass einige Dozierende in der frühen Zeit der Pandemie technische oder internetbezogene Probleme hatten, als Fernzugriff und Online-Lehrveranstaltungen eingerichtet werden mussten. Für Studierende hingegen war die digitale Ausstattung als Voraussetzung für die erfolgreiche Umstellung auf digitale Medien, laut einer Umfrage aus dem Jahr 2015, bereits damals schon gegeben. So verfügten mehr als 99 % der Studierenden über einen Internetzugang zu Hause und waren mit 5 verschiedenen digitalen Geräten ausgestattet. Daher konnte der Schritt von der Präsenz- zur Online-Bildung aufgrund der bereits vorhandenen digitalen Infrastruktur bei den Studierenden schnell erreicht werden, was auch durch Susanne Hafners Umfrage bestätigt wird.

Im Unterschied zu Vorlesungsvideos wurden Live-geplante Online-Vorlesungen sowohl von Studierenden als auch von Lehrenden als weniger nützlich bewertet, denn ihnen fehlt der große Vorteil der Wiederholbarkeit. Die Ergebnisse der Arbeitsgruppe aus Ulm decken sich mit einer Umfrage unter deutschen Medizinstudierenden der Universität Leipzig im September 2020, bei der mehr als 90 % der Studierenden angaben, dass traditionelle Präsenzveranstaltungen dauerhaft durch digitale Alternativen wie Audio- oder Video-Podcasts ersetzt werden sollten.

Aber wie verträgt sich die Umstellung auf digitale Lehrangebote mit der psychischen Gesundheit und welche sozialen Aspekte ergeben sich durch diese Transformation? Die Studie zeigt, dass es den Studierenden beim Arbeiten und Studieren zu Hause an sozialem Austausch und aktiver wissenschaftlicher Beteiligung am „Campusleben“ fehlt. So mangelt es allen Online-Vortragsformaten an verschiedenen Aspekten der Interaktion und direkten Kommunikation.

Weiterhin gaben Studierende und Lehrende weniger Kontakte zu Kollegen oder Kommilitonen an. Hält man sich vor Augen, dass die Studiengänge in Fächern der Medizin sehr herausfordernd sind und Medizinstudierende im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung ein höheres Risiko für Angststörungen und Depressionen haben, könnten soziale Distanzierung und Angst vor Ansteckung zusätzlichen Stress bedeuten und sich negativ auf die psychische Gesundheit von Studierenden und Beschäftigten auswirken. Unterstützt wird Susanne Hafners Sorge durch eine Studie aus Zypern, die die Gesundheit von Medizinstudierenden während der Pandemie untersuchte. Dort sanken die Werte für die psychische Gesundheit, während sich gleichzeitig die emotionale Erschöpfung mehrte.

Die Balance zwischen den Zukunftsvisionen und den Bedürfnissen von Studierenden und Lehrenden zu finden, bedeutet eine besondere Herausforderung für das Bildungssystem der nächsten Jahre, so resümiert Susanne Hafner. Sie fordert, dass über pandemiebedingte Veränderungen hinaus das Curriculum des Medizinstudiums der Digitalisierung des deutschen Gesundheitswesens Rechnung tragen und höhere Priorität beimessen sollte. Insgesamt müssen bei der Entwicklung neuer Lehr- und Lernformate neben Machbarkeit und Nutzen auch soziale und gesundheitliche Aspekte berücksichtigt werden. Eine Mischung aus Online- und Präsenzelementen mit zusätzlichen und passgenau konzipierten Lehrveranstaltungen, die praxisorientierte Aspekte vermitteln und auch das aktive Eigenstudium fördern und fordern, erscheint didaktisch sinnvoll. Sofern die hierfür notwendigen Ressourcen vorhanden sind, könnte dies die vorhandene Lücke schließen und einen wertvollen Beitrag zu einer gelingenden, zeitgemäßen Lehre leisten.

Text: Ute Haßmann

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